Heißgeliebtes Landleben
von Elisabeth Dichter-Hallwachs
Hof Hamerskaul, Utscheid
„Su äppes Dolles, daat goof et freja net hei op´m Land!“, sage ich zu einer Bekannten bei „Rock für Vielfalt“ im Haus der Jugend in Bitburg. Wirklich eine hervorragende musikalische Veranstaltung mit Künstlerinnen und Künstlern aus der Region und mit der Botschaft, sich für Demokratie und Vielfalt stark zu machen.
Das hat mich sehr berührt, mehr als die großen Musicals in den Großstädten.
„Da soll nooch ähnen soon, mia hätten kähn Kultur hei op dem Land!“
„Dia kennt ja Platt schwäätzen!“, staunt mein Gegenüber.
„Mawärisch daat, äisch senn doch enn escht ´Äfela Landeij´- un daat senn äisch och gear.“
„Dia seht goarnet su ous“, betrachtet mich mein Gegenüber von oben bis unten, als wolle sie sagen, mit so einem langen lila Rock und dem großen lila Hut läuft doch hier keine Frau herum.
„Oah, die Fraalett hei loofen doch hett och net meh mat Kiedelscheaz un Kappdooch rom!“
Ein Teil von mir ist immer das Mädchen vom Land mit der großen Liebe zur Natur und der tiefen Bauernseele meiner Vorfahren geblieben. Aber manchmal fühle ich mich hier so anders, als käme ich von einem anderen Planeten. Schon als Kind dachte ich und wünschte mir, ich wäre von einem „Zigeunerwagen“ gefallen, der durch unser Dorf zog.
Das würde meine Sehnsucht nach Freiheit und weiter Welt erklären.
Kindheit und Jugend in den 60er und 70er Jahren auf dem Land
Ich erinnere mich gerne an meine Kindheit in dem kleinen Eifeldorf. 1953 geboren, bin ich noch am Rand der alten Zeit aufgewachsen, wo noch vieles mit Hand gemacht wurde, ehe rasant die moderne Zeit begann. Vor fast jedem Haus ein Misthaufen, die Kühe gingen auf die Wiese, die Wiesen waren bunt, die Hühner liefen frei herum, und wir Kinder auch. Kindergarten und Spielplatz kannten wir nicht. Auch kein Schwimmbad und keinen Musikunterricht. Aber wir spielten auf der Straße Völkerball, da es noch sehr wenig Autos gab.
Früh hatten auch wir Kinder Aufgaben: „Keh heeden, Hohna feedan, Aija asammeln, Rommele kappen, Haj roppen, Eassen pellen, Grischelen plecken.“ Mein Vater sang mit uns bei der Arbeit die alten Volkslieder und auch Operettenarien. Die kann ich heute noch auswendig. Das war unsere „Kultur“.
Ich ging gerne in unsere kleine Dorfschule. Sechzig Kinder von der ersten bis zur achten Klasse in einem Raum, alle Fächer bei einem Lehrer. Wir lernten vor allem, brav zu sein und nichts in Frage zu stellen. Auch liebte ich es, in die Kirche zu gehen und lauthals „Großer Gott, wir loben dich!“ zu schmettern. Zweimal in der Woche Messe vor der Schule, und das nüchtern. Sonntags Hochamt und sonntags nachmittags zur Christenlehre ins Nachbardorf, drei Kilometer hin und drei Kilometer zurück. Das war selbstverständlich und wurde nicht diskutiert. Alles war geregelt: „Samstes Stroaß kehren und an de Biet, sonndes an de Kiasch, mondes Wääsch maachen.“
Im Dorf kannte man alle Menschen, und Fremde bekam man selten zu Gesicht. Die kleine dörfliche Welt war für mich überschaubar und meistens in Ordnung. Ich fühlte mich heimisch und beschützt. Und dennoch litt ich zunehmend unter der Enge und Strenge im Elternhaus und im Dorf. Denn alles „goof su gemaach, wie et schun imma gemaach goof, wie et all maachen“. Da war wenig Raum für Kreativität und Eigensinn.
Später habe ich in einem Buch von Prof. Johannes Nosbüsch aus Niederraden über das Eifeltypische gelesen. Er führt diese Hemmung vor Fremdem, Neuem und Kreativem darauf zurück, dass sich in der Eifel jahrhundertelang kaum etwas verändert hat. Das steckt uns wohl noch etwas in den Knochen.
Auf in die Welt
Das Fernsehen brachte die Welt außerhalb des Dorfes in unser Wohnzimmer. Ich besuchte eine weiterführende Schule in Trier und verbrachte die Ferien bei Verwandten in der Stadt. Und so erfuhr ich, dass es so unendlich viel Welt außerhalb unseres Dorfes zu entdecken gab. In mir wuchs so eine große Sehnsucht nach Bildung, Freiheit und eigenem Leben. Ich wollte unbedingt raus aus dem engen Dorf. Schließlich habe ich Abitur mühsam auf dem Zweiten Bildungsweg gemacht. Geprägt durch meine katholische Erziehung, wollte ich unbedingt Sozialarbeit studieren. Da ich einen Studienplatz in Koblenz bekam, durfte ich dann dort hinziehen.
Endlich raus aus der dörflichen Enge, weg von der Kontrolle der Eltern und des Dorfes! Da musste ich erstmal ordentlich über die Stränge schlagen. Wie „e Bunnessie, dat zum iechtemol op de Wies kemmt“. Neue, ganz andere Freunde, Wohngemeinschaft, Demos, Diskussionen, Nächte durchfeiern usw. Aber es war auch nicht einfach, mit der neuen Freiheit zurecht zu kommen. „No känen oußer mia selwa ze kucken“, das musste ich erstmal lernen.
Anfang der 70er Jahre, die Welt im Aufbruch, Studentenbewegung, Aufbrechen alter Strukturen, alles wurde rauf und runter diskutiert. Nicht einfach für mich, war ich doch zu Hause nie nach meiner Meinung gefragt worden. Als ich mit 23 das Diplom machte, meinten meine Eltern: “Well kemmst dou awa näs häm!“ Nein, auf gar keinen Fall! Ich wollte noch weiter weg in die Welt und begann in Berlin ein zweites Studium.
Berlin, diese riesige Stadt, faszinierte mich schon. Aber sie ängstigte mich auch gleichzeitig. Viel Kultur, Konzerte, Ausstellungen, politische Veranstaltungen, Menschen aus aller Welt mit allen Facetten eng aufeinander – eine völlig andere Welt als die, die ich gewohnt war. Ich fand es super, keinerlei sozialer Kontrolle ausgesetzt zu sein. Aber ich stellte auch fest, man wurde gar nicht gesehen, da konnte ich auch noch so verrückte Hüte tragen. In Berlin konntest du im „Kulang“ liegen, und es interessierte keinen. Auf dem Dorf würde dir immer jemand helfen. Nie konnte ich mich daran gewöhnen, mit vielen fremden Menschen in einem Haus zu leben, und dass die Haustür nicht die Wohnungstür ist. Immer wieder hatte ich Heimweh nach unserer dörflichen Idylle, die ja keineswegs nur idyllisch war.
Zurück aufs Land
Nachdem ich viel mit meinem Rucksack in der Welt herumgereist war und ich meine eigene Persönlichkeit entwickelt hatte, fühlte ich ganz deutlich, dass ich wieder zurück aufs Land wollte. Ich hatte große Sehnsucht nach den grünen Wäldern und der fetten Erde in meiner Eifeler Heimat. Ich träumte von einem großen Selbstversorgergarten. Ich wollte zurück in die Eifel, dort aber nicht wie meine Eltern leben, sondern ein „alternatives Projekt“ aufbauen. Zum Glück fiel mir der richtige Mann, übrigens kein Eifeler, sondern „e Friemen ous der Staadt“, in den Schoß. Und dann auch das richtige Projekt.
Als ich Mitte der 80er aus der Welt in die Eifel zurückkehrte, dachte ich erst, hier ist die Zeit stehen geblieben. Mein Mann und ich übernahmen die Leitung einer Jugendherberge, die wir damals schon, der Zeit voraus, sehr konsequent ökologisch und nachhaltig bewirtschafteten. Da sagte keiner: „Da kommen junge Leute mit neuen Ideen, wie schön!“, sondern eher: „Su eppes goof et doch hei nooch ze Lewen net!“ Da wir aber tüchtig und mit unserem Konzept erfolgreich waren, wurden wir mit der Zeit auch akzeptiert und gar respektiert.
Immer wieder fühlte ich auch die Enge in den Tälern und in den Köpfen. Aber da ich mich verändert hatte, konnte ich damit besser umgehen. Vielleicht fiel es mir deswegen auch erstmal schwer, mit Menschen, die mir nicht aus meiner Kindheit vertraut waren, Platt zu sprechen.
Jetzt im Rentenalter konnte ich mir meinen Traum vom Landleben vollends realisieren. Mein Mann und ich leben jetzt auf einem alleinstehenden kleinen Hof, „hinter den 7 Bergen, bei den 7 Zwergen“, inmitten von Wiesen, Feldern und Wäldern. Wir sehen keine Straße und auch kein anderes Haus. Ländlicher geht es nicht. Rund ums Haus nur Grün. Wir bewirtschaften einen etwa 2000 qm großen Selbstversorgergarten und eine Wiese mit ca. 1000 Obstbäumen. Mit meinen Händen in der Erde bin ich glücklich. Da vergesse ich alle Probleme der Welt und verbinde mich mit dem Göttlichen und der ganzen Schöpfung.
Ich geniesse es, mein kleines Reich gestalten und regieren zu können, wie ich es möchte.
Unser Garten wird konsequent ökologisch, biologisch und nachhaltig bewirtschaftet. Respekt vor der Pflanzen- und Tierwelt ist mir ein großes Anliegen. Wenigstens auf unserem Grundstück habe ich die Macht, sie zu schützen. So haben wir eine Oase von großer Biodiversität geschaffen, wo Brennnesseln und Wildkräuter sein dürfen und Vögel und Insekten Lebensraum finden. Wir haben keine Nachbarn, die meinen: „Kennt dir net mol de Brennnesseln wegmaachen!“ Ich bin dem Himmel dankbar, so leben zu dürfen.
Das Landleben heute
Mein Mann und ich wandern gern und viel durch unsere immer noch sehr schöne Eifellandschaft. Aber seit meiner Kindheit hat sich das Landschaftsbild und das Leben auf dem Dorf völlig verändert. Keine idyllische heile Welt mehr. Das war sie vielleicht auch nur in meiner Erinnerung.
Ich frage mich, warum gerade hier auf dem Land oft so wenig Gefühl und Gespür für die Natur und das Natürliche herrrscht. Kaum mehr Vieh auf der Weide, riesige Felder, auf denen meist nur Mais angebaut wird, keine Vielfalt, keine Kartoffeln und Rübenäcker. Durch das jahrzehntelange Spritzen mit sogenannten „Pflanzenschutzmitteln“ ist viel an Biodiversität verloren gegangen. Die Flurbereinigungen mit Bachbegradigungen und Beseitigung von Biotopen haben auch zur Verarmung der Landschaft geführt.
Selten sieht man noch schöne alte Streuobstwiesen, deren Erhalt zum Glück jetzt auch gefördert wird. Viel Obst fällt von den Bäumen, ohne dass es jemand aufhebt. Warum schätzt man oft das, was man vor der Nase hat, weniger als das Exotische? Viele Wälder sind krank und Bäume am Absterben. Zum Glück gibt es noch schöne Naturschutzgebiete mit vielen geschützten Pflanzen- und Tierarten.
Und dann die Dörfer. Im Dorf meiner Kindheit, wo früher jedes zweite Haus ein Bauernhof war, gibt es heute nur noch drei Großbetriebe. Keine Misthaufen mehr, sondern riesige Gülletanks, Landmaschinen so groß wie Panzer.
Die Dörfer wirken oft wie ausgestorben. Meist sieht man keinen Menschen auf der Straße.
Die wenigen Spaziergänger oder Wanderer sind in der Regel keine Einheimischen. Die Kirchtürme stehen noch, aber in den wenigsten Kirchen ist noch was los. Meist keine Tante-Emma-Läden mehr, selten noch eine Gastwirtschaft.
Viele Dörfer haben ihre dörfliche Kultur weitgehend verloren. Für meinen Geschmack passen viele Neubauten nicht ins Dorfbild. Die jungen Leute bauen lieber neu auf der grünen Wiese, und so stehen viele Häuser in den Ortskernen leer. Ein schön restaurierter Hof berührt meine Seele und erfreut mein Herz. Oft sind es Zugezogene, „Friemen“, die dörfliche Idylle suchen und uns ein Stück Dorfkultur zurückbringen.
Bunte Nutzgärten, die früher zu jedem Haus gehörten, sieht man nur noch selten. Sie wurden durch langweilige Rasenflächen oder graue, grauenhafte Schotterflächen ersetzt.
Ähnlich wie die Dörfer sehen auch die Friedhöfe aus. Viel Kies und wenig Grün. Ich war entsetzt, als viele der schönen alten Bäume auf dem Friedhof im Dorf meiner Kindheit gefällt wurden. „De maachen doch nur Sauerei!“, sagte eine Frau, als sei die Natur unser Feind, der ständig bekämpft werden muss. Vor Jahrzehnten durften in Berlin schon keine Bäume mehr einfach so gefällt werden.
Oft bewundern wir auf Reisen schöne alte Bäume, alte landschaftstypische Häuser, alte bewachsene Natursteinmauern, alte parkähnliche romantische Friedhöfe. Aber vor der eigenen Haustür will man das nicht haben. Vielleicht wollen die Dörfler nicht altmodisch, sondern modern und städtisch wirken. Und dabei verlieren sie ihre eigene Identität. Vielleicht schauen immer noch viele sehr darauf, „wie et all maachen“. Fängt einer mit dem Schotter vor dem Haus an, ziehen viele nach. Mich würden ja die Kräuter im Pflaster nicht stören, aber „wat solln daan de Noban soan“.
Zum Glück gibt es ja auch andere, die neue, naturnahe Wege gehen. Junge Leute fangen wieder mit Gärtnern an. Alternative Projekte wie der „Garten Idem“ in Idenheim entstehen, und insgesamt wächst auch wieder mehr Bewusstsein für die Umwelt.
Immer noch haben wir hier eine wunderbare Landschaft. Ich wünsche mir, dass wir Landbewohner diese auch schätzen und uns für ihren Erhalt einsetzen. Das wünsche ich mir auch von der Politik. Immerhin sitzen heute auch mehr Frauen in den Gemeinderäten und Gremien, was in meiner Jugend undenkbar war. Frauen entwickeln vielleicht auch mehr Fürsorge und Achtsamkeit für die Natur. Ich beobachte immer wieder, dass Männer eher gerne was abreissen, absägen und umlegen.
„Hei asset am Schinnsten!“
Trotz allem lebe ich gerne auf dem Land, und ich hatte das große Glück, mich dafür entscheiden zu können. Ich brauche diese weite, dünnbesiedelte Landschaft, die Wälder und Wiesen, und vor allen Dingen liebe ich es, mit meinen Händen in der fetten Eifelerde meines Gartens zu „wuhlen“. Mein großer Garten ist für mich das Paradies. Fremde, die unseren Garten sehen, sind begeistert. Einheimische sagen eher: „Oah, watt hott dia hei viel Oarbischt!“ Arbeit an sich ist doch nichts Schlimmes. Im Garten habe ich viel Bewegung an der frischen Luft, brauche nicht mit dem Auto ins Fitnessstudio zu fahren, außerdem produziere ich damit gute, gesunde Lebensmittel und tue was für die Umwelt.
Als ich zurück aufs Land gezogen bin, dachte ich, wenn man viel Natur hat, braucht man nicht so viel Kultur. Heute weiss ich, ich brauche beides. Mittlerweile gibt es hier auf dem Land auch viele hervorragende Kulturangebote, Theater und Konzerte jeder Art. Und trotzdem zieht es mich auch immer wieder mal in große Städte, wo ich die Vielfalt der Kulturen und der Kultur dort für kurze Zeit geniesse. Aber dort zu leben, kann ich mir überhaupt nicht mehr vorstellen.
Gerade vor ein paar Tagen sind mein Mann und ich von einer Berlinreise zurückgekehrt. Wir hatten dort wunderbare Tage mit Konzerten, Ausstellungen und interessanten Begegnungen. Aber als wir in Wittlich aus dem Zug steigen, berührt mich ein Gefühl von Heimat. Froh atme ich die klare, frische, saubere Luft ein, und auch die Ruhe. Nur zwei Menschen am Bahnhof. In Berlin begegnen einem auf einem U-Bahn-Bahnhof mehr Menschen, als im ganzen Jahr an unserem Haus vorbei kommen.
Wenn wir dann nach so einer Reise durch unsere weite, hügelige Eifellandschaft fahren, bin ich so froh und glücklich, hier leben zu dürfen. Und wenn wir dann die Zufahrtstraße zu unserem Hof herunterfahren und unser Haus inmitten von Grün in unserer heimeligen Kuhle liegen sehen, sagt mein Mann, der eigentlich kein Platt spricht: „Oah, hei asset och schinn!“ Und ich sage jedes Mal glücklich: „Hei asset am Schinnsten!“